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Ende und Anfang

Ich habe ein Grab gefunden, ein menschliches Grab.
Nein, Gräber sind nicht menschlich. Gräber sind dunkel und kalt.
Also:

Ich habe das Grab eines Menschen gefunden.
Auf einem Friedhof, zugewachsen, als wäre es nie da gewesen.
Mit bloßen Händen habe ich den Stein befreit, den Stein von der Natur befreit.
'Von der Natur befreit' klingt irgendwie falsch, aber ich habe es getan.
Zum Vorschein kam ein Name:
Otto stand dort, Otto Ganser.
Geboren 1923, 'gestorben worden' 1944, und vorher gefallen. Auf die kalte, harte Erde gefallen. Vielleicht im Schützegraben, vielleicht auf offenem Feld, aber immer alleine.
21 Jahre alt durfte er werden, der Otto.
Im Krieg haben sie ihn getötet!
Im letzten, großen Krieg in diesem, unserem Land.
Im vorläufig letzten Krieg in diesem, unserem Land.
Er war mir gleich sympathisch, der Otto.
Immerhin ist er 'gestorben worden', getötet sagt man fachmännisch, in dem Alter in dem heute mein Sohn ist, die Kinder meiner Freunde sind, die Jungs und Mädels, die, so sagt man auch, ihr ganzes Leben noch vor sich haben.

Nach einem Krieg sagt man, 'haben sollten' oder 'gehabt haben sollten' noch besser 'hätten haben sollen'. Unsere Sprache ist auf eine wundervolle Weise exakt. 

Otto hatte nichts mehr vor, außer Angst und seinen Tod.
Ob seine Mutter es erfahren hat?
Soll ich hoffen, dass sie selbst schon vorher gestorben war? Hofft man so etwas? Im Krieg gibt es tatsächlich Hoffnung auf den Tod. Irre, was?
Wenn sie jedoch noch am Leben gewesen wäre, die Mutter als sie ihr sagten, dass ihr Sohn... In dem Moment wäre sie es dann tot gewesen, ohne getötet zu werden,
ihr Herz gestorben, ihre Seele in Stücke zerrissen.

 

Lang schon ist´s her.
Lang schon habe ich aus diesem Grab, Ottos Grab, einen wunderschönen Garten gestaltet,
gemeinsam mit der Natur gestaltet, für diesen Jungen, der nichts dafür konnte, dass er diesen Krieg mitmachen musste.

Er war in einem Land geboren in dem schon wieder Krieg geführt wurde.

Es hätte auch Frieden geführt werden können, aber es wurde Krieg geführt.
Immer wenn ich über den Friedhof gehe, stelle ich für ihn eine Kerze auf.
Ich sage, sie sei von seiner Mutter.
Ich sage, er sei nicht umsonst gestorben.
Ob er mir meine Worte wohl glaubt?

 

 

NEUJAHR

 

So rein

die erste Dämmerung im neuen Jahr

als ob das Land und seine Wesen

versöhnt sind für den Augenblick

ganz plötzlich die Bedeutung fühlen

was Erde schenkt und braucht

was Mensch sich wünscht und doch nicht lebt.

Wie gut dass er noch schläft.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Frank Ackermann (Montag, 01 Januar 2024 10:21)

    Wir wissen nicht, was dieser junge Man gedacht und empfunden hat. Wir nehmen an, dass er sich dem Krieg nicht hätte entziehen können, da es zwischen einem Einzelnen und einer Gesellschaft, damit sie als Gesellschaft existieren kann, Regeln und Verpflichtungen gibt, die nicht jeder eingehen möchte, aber in der Regel doch muss. Wehrdienst, als ein Beispiel. Zum Pazifismus kann sich ein einzelner Mensch bekennen, ein Staatengebilde braucht Ordnungskräfte im Innen wie fürs Außen, also Regeln und jemand, der diese im Sinne einer Gemeinschaft durchsetzt. Justiz, Polizei, Armee usw., die auch Schutz bieten.
    Es entsteht also ein Dilemma zwischen dem Schicksal eines einzelnen auf der einen Seite und den Erfordernissen einer Gesellschaft auf der anderen Seite, wenn nicht das Recht des Stärkeren gelten soll und eine Gesellschaft in Anarchie und Auflösung verfallen soll, es sei denn eine Mehrheit der Menschen will das so und dann müsste das verhandelt werden.
    Der damalige Krieg war natürlich ein Verbrechen an der Menschheit, auch an der eigenen Bevölkerung und nun müsste man analysieren, warum es Kriege gibt oder sie notwendig sind oder nicht. Es gibt ja Theorien über gerechte und ungerechte Kriege usw. Das führt vielleicht zu weit.
    Was ich sagen will ist, dass es für jeden Menschen tragisch ist früh zu sterben, es sei denn ein Mensch ist sehr religiös und hat ein anderes, gefühlsmäßiges Verständnis vom Leben vor dem Tod, oder für Zwecke benutzt zu werden und sterben zu müssen, die er nicht mitträgt oder denen er qua Manipulation zum Opfer fällt.
    Aus einer allgemein, wohl den meisten Menschen innewohnenden moralisch-ethischen Sicht und dem daraus folgenden Gerechtigkeitsempfinden heraus ist der Tod von Otto sehr traurig und schmerzhaft.
    Gewalt und Aggressionen sind offenbar Bestandteil der Menschen vor diesem 2. Weltkrieg, der eine Entstehungsgeschichte hatte und nach diesem 2. Weltkrieg. Bis heute sind mehr Menschen in den Folgekriegen gestorben, als im 2. Weltkrieg.
    Darüber kann man sich beklagen und doch hat bisher niemand die Milliarden Menschen dazu gebracht, Konflikte anders zu lösen.



  • #2

    Uschi Hammes (Montag, 01 Januar 2024 13:15)

    Herzlichen Dank Frank Ackermann!
    In der Tat steckt der Mensch in einem Dilemma. Wie er da herauskommen kann, bleibt uns vorerst verborgen. Das er es will, falls er gedanklich irgendwann 'großgeworden' ist, glaube ich schon. Ob er jemals dazu in der Lage sein wird, bleibt eine von den großen, vielleicht die größte Frage.
    Der Mensch kann sich selbst entscheiden, so höre ich wieder und wieder die Worte von gläubigen Christen. Kann er das wirklich? Warum hat Gott dem Menschen die Entscheidungsfreiheit gegeben, wo er als Schöpfer gewusst hat, was geschehen wird? Kein allzu feiner Zug, doch wenn Tag nicht ohne Nacht, heiß nicht ohne kalt, schwarz nicht ohne weiß, kann gut dann ohne böse - Gott ohne Teufel?
    Gehe ich zu den Griechen, komme ich zur Büchse der Pandora, von der ich glaube, dass die Hoffnung ihr sehr wohl entwichen ist, denn nur durch die Hoffnung kann der Mensch auf ewig leiden. Würde er es tun, wenn er hoffnungslos wäre?
    Ist der Mensch vielleicht gar nicht in der Lage friedlich zu leben? Man kann aus einem Tiger auch keinen Vegetarier machen, nur weil man selbst kein Fleisch isst.
    Es ist wahrlich nicht leicht als Mensch unter Menschen zu leben, dennoch bleiben wir gespannt, so wie die Fragen unerschöpflich.
    Am 1. Oktober schrieb ich hier eine Ballade von einem kleinen Soldaten, auch ihn hat es wahrscheinlich gegeben, irgendwo.
    Zahlen von Getöteten berühren nicht, und so geht es mir in diesen kleinen Geschichte darum, dem einzelnen Menschen im Krieg ein Gesicht zu geben, und den Leser damit zu berühren, mal so, mal auf andere Weise, immer aber ehrlich.
    Biermann sang einmal: ''Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich' '' .
    Sie sind es nicht!